Athen startet durch als hippe Trendmetropole
Stadt mit Ecken und Kanten
Ich liebe Athen. Aber auf den ersten Blick kann die Stadt leicht enttäuschen. Sie wirkt schmuddelig, der Verkehr fließt zäh. Fast keine andere europäische Hauptstadt bietet weniger Grünflache pro Einwohner. Die Metropole macht es einem nicht unbedingt leicht. Trotzdem war es bei mir Liebe auf den ersten Blick. Das liegt vor allem auch an den Menschen hier. Inzwischen gibt es viele Projekte, um vernachlässigte Viertel aufzupolieren und vergessene Ecken zu revitalisieren. „Es ist eine Stadt, die überrascht“, erzählt mir der Journalist und Fotograf Nikos Vatopoulos. „Eine Stadt, die der Fantasie Flügel verleiht wie keine andere europäische Metropole. Sie ist einfach unberechenbar.“ Sein Buch Walking in Athens hat mir die sozialen und historischen Zusammenhänge erklärt, die Athen so einzigartig machen. „Athen ist eine neue Stadt, das bedenken viele nicht“, sagt er. „Natürlich gibt es die antiken Ruinen. Aber vor 150 Jahren war Athen eine kompakte, für europäische Verhältnisse relativ kleine Stadt. Man könnte sagen, Athen war das Brasilia des 19. Jahrhunderts: Eine Stadt, die in den 1830er-Jahren von Stadtplanern als Hauptstadt einer neuen Nation angelegt wurde.“
Bauboom und Charaktertypen
Die Antike, das byzantinische Reich und die Osmanen – sie alle hinterließen ihre Spuren. Aber nach dem Unabhängigkeitskrieg im Jahr 1821 versuchte der frischgebackene griechische Staat aus Athen eine geordnete, neoklassische Stadt zu machen, die mit den großen Hauptstädten Europas mithalten konnte. Der ambitionierte Plan ging nicht auf. Stattdessen wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg so richtig gebaut. Leider etwas planlos. Manche Häuser sind moderne Meisterwerke, etwa das Blaue Apartmenthaus nahe dem Exarcheia-Platz. Aber oft verlieren sich Designperlen in der Kakofonie verschiedener Stile.
Die Kombination aus Meer und grünen Bergen rings um die Stadt hat dennoch viele digitale Nomaden angezogen. Wenn es um echte Charaktertypen und inspirierende Menschen geht, ist Athen ganz vorn dabei. Die Grafikdesignerin Natassa Pappa etwa organisiert geführte Rundgänge durch das Labyrinth der Stoas (Einkaufsarkaden) mit ihren beleuchteten Ladenschildern und altmodischen Schriftzügen.
Kultur und Kaffee
Besonders bei Neuankömmlingen – darunter Griechen, die im Ausland gelebt haben und die Digitalnomaden aus Athens Start-up-Szene – gibt es einen Willen zur Veränderung. Nach den langen Jahren der Wirtschaftskrise ist ein neues Bewusstsein spürbar, das sich in schrägen Projekten wie Communitism manifestiert. Dieser queer-freundliche Kunst- und Kiezverein hat sich in einem historischen Gebäude einquartiert und bewahrt es so vor dem Verfall. Oder nehmen wir die bekannte Athener Hip-Hop-Band ATH Kids, das beste Beispiel für eine aufstrebende, weltweit vernetzte Musikszene. Es gibt immer mehr wuselige Hipster-Kaffeeläden wie Kick, Lot51 oder Anana. Und das neue Kunstzentrum in der Polidefkous-Straße in Piräus hat bereits Galerien aus Istanbul, Beirut und London angezogen.
Wie viele andere Städte hat auch Athen während der Pandemie Straßenraum für Radfahrer und Fußgänger zurückgewonnen. Dieses Jahr soll The Great Walk fertiggestellt werden: Eine abgegrenzte Fußgänger- und Fahrradverbindung zwischen den wichtigsten Sehenswürdigkeiten und Ausgrabungsstätten, größere autofreie Zonen und neue öffentliche Grünflächen, um die Luftqualität zu verbessern.
Neuer (Flug-)Hafen
Außerdem wird Athens 70 Kilometer langes Meeresufer wiederbelebt. Die Gärten rund um das von Stararchitekt Renzo Piano entworfene Kulturzentrum der Stavros-Niarchos-Stiftung sind Teil der ersten Phase. Hier finden im Sommer Gratis-Konzerte statt. Der alte Hafen von Mikrolimano wurde saniert. Seine Fischrestaurants und Bars bieten beste Aussichten auf schicke ankernde Jachten. Der ehemalige Flughafen und das dem Verfall überlassene Areal der Olympischen Spiele von 2004 sollen zum Ellinikon Experience Park, einem riesigen Gelände mit Fontänen und Spielplätzen, umgebaut werden – Europas größtes Stadterneuerungsprojekt. Und wie ich Athen kenne, wird es garantiert auch noch die eine oder andere unerwartete Wendung geben – ich bin jedenfalls gespannt, wie die Show weitergeht.
Der Artikel ist erstmals im WINGS Magazin erschienen. Sämtliche Tipps und weitere tolle Sachen zu Athen kannst du in Alex's ausgefallenem Athen-Stadtführer Soul of Athen nachlesen.