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Das verwaiste Schieferdorf Cerdeira

Es ist Abend in Cerdeira, einem winzigen Bergdorf mitten in Portugal. Nebelschwaden, Felsen, Flussrauschen und ansonsten – Ruhe. Cerdeira ist ein Aldeia do Xisto, zu Deutsch: Schieferdorf, bestehend aus 20 bis 30 Häuschen. Mitten im Herzen Portugals gibt es Hunderte dieser Minisiedlungen. Sie entstanden vor 200 bis 300 Jahren. Das waren andere Zeiten: analog, lokal, pragmatisch. Nur wanderten die Dorfbewohner:innen irgendwann in Stadtwohnungen oder andere Länder ab, in denen die Löhne höher waren. Die Dörfer verwaisten, Dächer fielen ein, Moos überwucherte bröckelnde Schieferwände und uraltes Knowhow starb fast aus. 

Traditionelles portugiesisches Haus Quelle: Kerry Murray

Der wohltätige Verein ADXTUR stieß eine Tourismusinitiative an, um das zu verhindern. Cerdeira ist eins von 27 Schieferdörfern, für die die acht ADXTUR-Mitarbeiter:innen Fördergelder auftreiben, recherchieren, zuhören, vermitteln, reden und überzeugen und das seit gut 20 Jahren.  

Heute sind nur noch wenige Dächer in Cerdeira kaputt und das Moos ist atmosphärisches Detail geworden. Herzstück des Ortes ist nun die Töpferwerkstatt. Kerstin Thomas, eine deutsche Holzschnitzerin, verliebte sich in das fast verlassene Cerdeira. Gemeinsam mit ADXTUR gründete sie das Projekt Home for Creativity: Sie lädt Künstler:innen ein, veranstaltet Töpferkurse und schnitzt Skulpturen aus hiesigem Holz. Der japanische Keramiker Sensei Masakazu Kusakabe baute 2015 einen rauchfreien Brennofen, der nun die Hauptattraktion des Dorfes ist.

Von Schieferhäusern gesäumte Straße in einem traditionellen Dorf Quelle: Kerry Murray

Brotbacken in der Gerüchteküche in Figueira

Auch im Schieferdorf Figueira spielt ein Ofen eine zentrale Rolle. Er hat sein eigenes kleines Schieferhaus mit Vordach und Sitzbank. Hier buken einst alle Dorfbewohner:innen ihr Brot. Das war nicht nur energieeffizient, sondern half auch dem sozialen Gefüge. Man traf sich am Backofen, flirtete, erzählte Geschichten und tauschte Geheimnisse aus. Ein Holzbalken vor der Ofenluke mit nummerierten Löchern diente als analoger Google-Kalender, mit dem sich die Familien ihren Platz in der Backordnung sicherten. Auch wenn heute nur noch zwei Familien in Figueira wohnen, der Ofen wird trotzdem regelmäßig angeschmissen.  

Traditioneller Ofen Quelle: Kerry Murray

Joana Pereira, eine forsche Frau mit Lockenhaar, betreibt Figueiras Restaurant Casa Ti Augusta. Joanas einjährige Tochter Eva ist die jüngste Dorfbewohnerin und das erste Kind, das hier geboren wurde, seit ihr Vater vor mehr als 30 Jahren in Figueira zur Welt kam. Seine Eltern erinnern sich an eine Zeit, als in den Bergen vor dem Dorf noch Wölfe heulten und hohe Holztore das Dorf vor unerwünschtem Besuch schützten.

Joana Pereira beim Zubereiten traditioneller Speisen Quelle: Kerry Murray

Als Hauptspeise serviert Joana heute geschmortes Ziegenfleisch. Überhaupt wird in den Schieferdörfern zünftig gegessen: Kabeljau in Roggenbrot im Restaurant Fiado in Janeiro de Cima oder schwarze Schweinebacken mit Gemüse im Varanda do Casal in Casal de São Simão. 

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Das Wegenetz in Talasnal

José Gaspar führt uns durch Talasnal und erklärt, wie einst Verstorbene aus dem Dorf die steilen Treppenstufen hinunter zum Friedhof ins Tal getragen werden mussten. Wie im benachbarten Cerdeira hat heute niemand mehr seinen Hauptwohnsitz in Talasnal. Die Mühlen, in denen früher Olivenöl gepresst wurden, stehen still. Auch Ziegenherden gibt es keine mehr. Doch das ausgedehnte Netz an Hirtenpfaden, von einem Dorf zum nächsten, das gibt es heute noch.  

Dafür sorgt José. Klein und drahtig, mit einem verschmitzten Lächeln, wandert er fast täglich von der Bezirksstadt Lousã hinauf nach Talasnal. Eine Stunde dauert das. José führt Wandergruppen für Activar, einer Partnerorganisation von ADXTUR. Auch Vollmondwanderungen durch die Berge bietet er an. „Wir kommen abends nach Talasnal, trinken einen Tee und wandern los. Ich brauche nicht mal eine Taschenlampe, höre Wildschweine, sehe ungewöhnliche Schatten. Es ist sehr schön“, schwärmt er von den monatlichen Exkursionen im Mondschein.  

Alter Hirtenpfad in den Bergen Portugals Quelle: Kerry Murray

„Diese Dörfer taugen für eine ganz neue Lebensweise“, sagt Bruno Ramos, bei ADXTUR für die Kommunikation zuständig. Schon vor 200 Jahren kamen Materialien aus der direkten Umgebung zum Einsatz, mussten Energie und Ressourcen gespart werden. Lange bevor es „Recycling“ als Begriff gab, wurden es hier bereits gelebt. Bruno findet das bezeichnend: „Ich sehe die Zukunft unserer Gesellschaft in der Zukunft dieser Dörfer. Das gibt mir Hoffnung.“

Der Artikel ist erstmals im WINGS Magazin erschienen.

Auf Spurensuche im authentischen Portugal

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